Existenzanalyse nach Längle


Die Existenzanalyse hat ihren historischen Ursprung in der Logotherapie (LT) und Existenzanalyse (EA) Viktor E. Frankls. Ausgehend davon hat
Alfried Längle, der lange mit Frankl zusammenarbeitet, den Ansatz ausgebaut und erheblich erweitert (u. a. existentielle Motivationstheorie, Methodik der Personalen Existenzanalyse, existentielle Diagnostik- und Behandlungskonzepte). Er beschreibt die Weiterentwicklung auf folgende Weise:  

Durch dieses Konzept wird der Existenz-Begriff gegenüber dem der Logotherapie aufgeweitet. [D]ie Existenzanalyse [hat sich] weit entfernt von einem appellativen Prozedere, wie Frankl es für die Logotherapie vorgab (…). Die phänomenologische Haltung brachte auch eine eigenständige Emotionslehre hervor und führte zum stärkeren Einbezug der Gefühle als Drehscheibe in der Praxis. Als phänomenologische Psychotherapie setzt die Existenzanalyse am subjektiven Erleben der Klienten bzw. Patienten sowie der Therapeuten an und bringt diese Wahrnehmungsformen in einen partnerschaftlichen Dialog.“ (Längle 2021) 

Aus Sicht der Existenzanalyse will jeder Mensch ein selbstbestimmtes, eigenverantwortetes und erfülltes Leben führen. Ziel der Therapie ist es, der Person zu einem freien Erleben, zu authentischen Stellungnahmen und zu einem eigenverantwortlichen Umgang mit sich selbst und der Welt zu verhelfen. Als psychotherapeutische Methode befähigt sie den Menschen, sich aus Blockaden und Verstrickungen zu lösen und sein personales Potential zu entfalten. Nach Längle wird er dabei immer eingebettet gesehen in vier grundlegende Themen menschlichen Daseins: Verlässlichkeit, Beziehung, Selbstsein und Sinn (→ Grundmotivationen). 

Ausgangspunkt für die psychotherapeutische Vorgehensweise ist das, was den Menschen aktuell bewegt. Die existenzanalytische Praxis ist methodisch-hermeneutisch geleitet durch eine dialogische Gesprächsführung, die von dieser Zielbestimmung her den Menschen in seiner je eigenen Daseinsweise zu verstehen und zum individuellen Selbstverstehen beizutragen anstrebt. Dies bezieht auch biographische Arbeit mit ein. Neben der Psychotherapie findet die Existenzanalyse außerdem Anwendung in den Feldern Lebens- und Sozialberatung, Pädagogik, Seelsorge, Pflege, Coaching und Organisationsentwicklung. 

Existenzanalyse bedeutet Analyse der Bedingungen für ein wertfühlendes, selbstgestaltetes und menschenwürdiges Leben. Sie hat die Entfaltung der Offenheit und Eigenaktivität (→ Hingabefähigkeit) im Erleben, in den Beziehungen und im Handeln zum Ziel. Sie arbeitet somit an den personalen Voraussetzungen für eine sinnvolle Existenz, wo diese durch seelische Krankheiten und Störungen verschüttet sind. Sie hat als theoretischen und praktischen Hintergrund das Konzept der Grundmotivationen, die als „Bausteine der Existenz“ systematisch im Beratungs- und Therapiegespräch eingesetzt werden. Darüber hinaus steht für die Therapie die Methodik der Personalen Existenzanalyse zur Verfügung. Bei ihr handelt es sich um eine Psychotherapiemethode, die es ermöglicht, psychogene Störungen zu behandeln.  

In der modernen Existenzanalyse laufen die Begriffe Dasein (Existenz), Beziehung (Werte), Freiheit in der Entscheidung, Verantwortung (Gewissen) und Ausrichtung auf ein konstruktives Werden in der Zukunft (Sinn) im Schlüsselbegriff der persönlichen Zustimmung zu dem, was wir tun und erleben, zusammen, da der Mensch als ein Wesen verstanden wird, das ständig – bewusst oder unbewusst – sein Leben gestaltet. Dies kann er aber nur, wenn er um die zur Entscheidung stehenden Werte weiß, sie erleben und gegeneinander abwägen kann.  Hierzu dient v. a. die Förderung der Dialogfähigkeit – nach außen und nach innen. Die Existenzanalyse wendet sich darum gegen alle kausal-deterministischen Versuche, den Menschen auf biopsychologische Mechanismen oder allgemeine Verhaltensmuster zu reduzieren. Der Mensch verfügt, über die potenzielle Fähigkeit, sich selbst gegenüber zu treten und mit sich in einen Dialog kommen zu können. Aus diesem Bewusstsein des eigenen Freiheitsraumes heraus ist es ihm möglich, sich selbst zu transzendieren, sich auf Werthaftes einzulassen, auf etwas, das jenseits seiner jeweiligen subjektiven Befindlichkeiten in dieser Welt auf ihn wartet, um von ihm verwirklicht zu werden. 

 

Strukturmodell der Existenzanalyse nach Längle (2016) 

Was bewegt den Menschen? 

Die Existenzanalyse geht von vier existentiellen Grundmotivationen aus, die jeden Menschen bei der Gestaltung eines erfüllten Lebens bewegen.  

  1. Der Mensch ist darauf ausgerichtet, in der Welt sein und überleben zu können. Hierbei ist er auf Schutz, Raum und Halt angewiesen, sodass sich Vertrauen, Geborgenheit und Grundvertrauen entfalten können. So lernt er, das, was ist, annehmen oder aushalten zu können. Andernfalls sind Ängste die Folge. 
  2. Der Mensch ist auf Verbundenheit hin ausgerichtet. Hierzu benötigt er Beziehung, Zeit und Nähe, um sich Wertvollem zuwenden zu können und Zugang zum Grundwert des Lebens zu haben. Dies spiegelt sich in dem Gefühl, dass es gut ist, da zu sein. Andernfalls sind depressive Verstimmungen oder affektive Störungen die Folge. 
  3. Der Mensch ist auf Entfaltung seines Selbst-Seins ausgerichtet. Beachtung, Gerechtigkeit und Wertschätzung helfen ihm, sein Ich und seinen Selbstwert auszubilden, sodass es ihm möglich wird, authentisch zu leben, eine Identität zu entwickeln und ein eigenes Gespür für das ethisch Richtige zu finden. Defizite führen zum Symptomkomplex der Selbstwertstörungen und histrionischen Entwicklungen.
  4. Der Mensch ist auf einen sinnstiftenden Kontext ausgerichtet. Als wertvoll empfundene Tätigkeiten, Möglichkeiten und Zusammenhänge lassen ihn erfahren, dass er mit seinem Dasein für etwas anderes gut ist. Suizidalität verweist auf entsprechende Defizite. 

 

Prozessmodell der Existenzanalyse nach Längle (1993, 2000) 

Wie kann ein freier und verantwortlicher Umgang mit sich und der Welt gelingen? 

Im Prozessmodell der Personalen Existenzanalyse (PEA) werden Klient:innen im Wege des therapeutischen Dialogs in folgenden Schritten angeleitet und unterstützt: 

  1. Betrachtung des Geschehens 
  1. Verstehen der Gefühle und Impulse von sich und anderen 
  1. Finden des Eigenen sowie einer authentischen Stellungnahme 
  1. Erarbeiten von konkreten Handlungsschritten 

Ziel und Aufgabe der Methode ist es, die Person auf ihre Zustimmung zum Leben hin ganzheitlich anzufragen und sie zu unterstützen, sich aus Verstrickungen, Fixierungen und Partikularisierungen zu lösen. Erst wenn der Zugang zu verschütteter oder verstummter Emotionalität gelingt, ist es dem Menschen möglich, zu authentischen Stellungnahmen zu finden und schließlich zu einem verantworteten Handeln zu gelangen.